Die erste Waldorfschule wurde im September 1919 in Stuttgart eröffnet. Heute gibt es weltweit 1283 Einrichtungen in 71 Ländern. Wer sich mit der Pädagogik des Österreichers Rudolf Steiner schon einmal näher auseinandergesetzt hat, weiß, dass natürliche Materialien und das Handwerk im Schulalltag eine große Rolle spielen. Handarbeiten, Werken, Malen, Plastizieren, Korbflechten, Schmieden sind Teile der schulischen Ausbildung und sollen dazu beitragen, die kreativen und künstlerischen Fähigkeiten der Schüler zu entwickeln. Die Baustoffe Holz und Lehm spielen in der davon abgeleiteten anthroposophischen Architektur schon seit jeher eine große Rolle. Denn das Schlagwort „wohngesund“ sollte gerade beim Bauen für Kinder an erster Stelle stehen.
Harmonische Verbindung zwischen Alt und Neu
Dieser Ansatz wurde unlängst in Wien-Mauer bei einer innovativen Schulerweiterung verfolgt. Ein Bauvorhaben, das sich ideal für die vielseitigen, organischen und natürlichen Baustoffe eignete. Die 1964 gegründete Rudolf Steiner-Schule ist dort auf zwei Gebäude aufgeteilt. Das eingeschoßige Haus aus dem Jahr 1867, das gegenüber dem Maurer Schlössl liegt, sollte umgestaltet werden, da akuter Platzmangel herrschte. Zudem war die alte Bausubstanz in einem desolaten Zustand. Der unter Ensembleschutz stehende Bau wurde durch die Architekten Dietrich Untertrifaller und den Lehmbauexperten Andreas Breuss erneuert. Dabei blieb die historische Fassade zur Straße hin in ihrer Form unangetastet.
Auf der Hofseite wächst seit diesem Jahr ein langgestreckter Baukörper aus dem Bestand heraus. Im Zuge der Ertüchtigungen wurde das bestehende Dach abgetragen und durch ein neues ersetzt, das eine harmonische Verbindung zwischen Alt und Neu schafft. Insgesamt umfasst das Projekt für den privaten Rudolf Steiner-Schulverein als Bauherr 3100 m2 an Fläche. „Schon im Zuge des Wettbewerbs 2014 haben wir angeboten, den Schulneubau in Holzbauweise zu planen und die Innenräume mit Lehmbaustoffen zu gestalten. Synthetische und künstliche Materialien sollten möglichst reduziert oder vermieden werden. Im Innenraum sind alle Trennwände in Holzständerbauweise, mit Holzfaserdämmung und Lehmoberflächen ausgeführt. Diese Holz-Lehm-Wände erfüllen nicht nur die hohen bauphysikalischen Anforderungen an ein Schulgebäude, sondern verbessern auch das Raumklima. Lehm kann auf natürliche Weise die Luftfeuchtigkeit in Innenräumen regeln. Durch seine große Speichermasse ist das Raumklima immer behaglich. Die unbehandelten Oberflächen schaffen emissionsfreie und gesunde Räume“, weiß Breuss.
Erweiterung des Widmungsfeldes
Das Projekt verzögerte sich, da für den Bau einer gewünschten Normturnhalle mit Maßen von 15 x 27 m erst das Flächenwidmungsfeld erweitert werden musste. „2021 war die Umwidmung durch, sodass wir die Turnhalle in geplanter Größe auch organisieren konnten. Dann ging die Überarbeitung los. Wir haben die Pläne neu eingereicht und konnten 2022 schließlich zu bauen beginnen“, erzählt Michael Porath, verantwortlicher Associate Partner am Standort Wien. Eine grundlegende Korrektur des Wettbewerbsentwurfes war die Nutzung des ensemblegeschützten Bestandes anstatt eines reinen Neubaus. „Aus dem eingeschoßigen, kleinvolumigen Vorstadthaus sollte sich in den Hof hinein das neue Schulgebäude ex-trudieren. Das Straßenbild mit den historischen Fassaden vis-à-vis wurde so nicht markant verändert. Das sanierungsbedürftige Bestandsgebäude sollte zu mindestens 50 % bestehen bleiben. Aus den Zwängen der Flächenwidmung (Bauklasse 1 und einer Gebäudehöhe von 7,5 m) ergeben sich durch die Form des Daches im Inneren spezielle und interessante Raumformen“, fügt Porath an. Der Baumbestand konnte trotz Erweiterung des Widmungsfeldes weitgehend erhalten werden. Abgebrochen wurde lediglich der gartenseitige Bereich. In den Bestand haben die Planer einen Kindergarten und die Küche des Schulrestaurants integriert. Sonderunterrichtsräume, Lehrerzimmer und ein Eurythmie-Saal befinden sich darüber. Der gartenseitige Speiseraum des Restaurants wird sowohl als Schulkantine als auch für externe Veranstaltungen genutzt.
Turnhalle mit spannenden Ein- und Ausblicken
Im Ersatzneubau befinden sich im ersten Stock zwei Klassenzimmer und vier Horträume, jeweils ausgestattet mit eigenen Garderoben. Darüber sind weitere Klassenräume mit Dachterrasse angesiedelt. Die Erschließung der Räume erfolgt über einen außen liegenden Laubengang, der zugleich als Sonnenschutz und Aufenthaltsbereich dient. Über Treppen ist der Garten direkt erreichbar. Das Raumkonzept ermöglicht ein kreatives Lernumfeld, das sich leicht an verschiedene Bedürfnisse anpassen lässt. Lern-, Spiel-, Sozial- oder Werkstattzonen können flexibel gestaltet und genutzt werden. Das Unter- und Erdgeschoß des Neubaus wird größtenteils von der geräumigen Turnhalle eingenommen, die durch Fensterbänder viel natürliches Licht erhält und spannende Ein- und Ausblicke bietet. Dank eines separaten Eingangs kann die Turnhalle auch außerhalb des Schulbetriebs genutzt werden.
Holzkonstruktion überspannt 16 m
„Die Holzkonstruktion ist so raffiniert geplant, dass möglichst wenig Stahlverbindungen notwendig wurden. Der Fokus lag auf Holzverbindungen. So wirkt die Holzkonstruktion über der Turnhalle, die 16 m überspannt und alle Unterrichtsräume darüber tragen muss, wie ein zweigeschoßiger Träger, der bis auf die Stahlstützen in der Turnhalle ausschließlich mit Holzwerkstoffen funktioniert. Der Ersatzneubau wurde aus Rippen- und Hohlkastenelementen errichtet, mit überwiegend natürlichen Dämmstoffen wie Holzwolle und Zellulosedämmung als Wärmeschutz“, weiß Architekt Tobias Indermühle, der bei Dietrich Untertrifaller am Projekt mitarbeitete. Für den Holzbau war Handler Bau aus Wien zuständig. Der Innenausbau wurde mit Lehmbauplatten und verputzten Lehmoberflächen umgesetzt. Diese Baustoffe haben eine niedrige Herstellungsenergie und sind regional verfügbar. Zudem erfüllen die Lehmbauplatten bauphysikalische Eigenschaften wie den Schallschutz in den Räumen.
Raus aus dem Nischendasein
Lehm kann so in Zukunft synthetische Baustoffe ersetzen, doch steht man laut Breuss, der seit 2007 ein technisches Planungsbüro für Holz-Lehm-Innenarchitektur betreibt, diesbezüglich noch immer am Anfang. „Mit jeder neuen Entwicklung und Anwendung gewinne ich kurz- und langfristig Erfahrungen über den Wert eines Baustoffes. Lehm hat viel mehr Potenzial als die bekannten Einsatzgebiete Lehmputz und Stampflehm. Durch meine jahrelange Forschung und gebaute Prototypen kann ich aus meinem Fundus schöpfen. Aber das kann man nicht von jedem Planer erwarten“, sagt Breuss. Als Vorsitzender des Netzwerks Lehm bemüht er sich darum, dass Aufbauten geprüft, analysiert und in einer Datenbank – ähnlich wie dataholz im Holzbau – zur Verfügung gestellt werden. „Nur verbindliche Richtlinien und geprüfte Aufbauten lindern Unsicherheiten bei Bauherren und ausführenden Unternehmen. Und nur ein breites, gesichertes Angebot holt den Lehm als Naturbaustoff aus seiner Nische“, ist sich der Experte sicher. Auch die Industrie müsse bei Forschungsaktivitäten, um Alternativen für herkömmliche Aufbauten zu entwickeln, mehr eingebunden werden. „Gerade bei Schulbausanierungen mit öffentlichen Auftraggebern herrscht ein enormer Kostendruck. Bei der Firmenauswahl kommen daher oft nur große Player zum Zug. Die haben ihre geprüften Aufbauten in der Tasche und können somit auf Euro und Cent genau sagen, was der Quadratmeter kostet. Mit ihren Standardprodukten generieren sie eine Kostensicherheit. Sobald ich aber nach alternativen, innovativen Lösungen suche, steigt der Aufwand bei allen. Wir tun das gerne. Wir sehen es als unsere Aufgabe, in diese Richtung aufzuklären“, ergänzt Porath. Im Falle der Rudolf Steiner-Privatschule hat man laut Porath dieses alternative Vorhaben von Anfang an unterstützt, da die Materialauthentizität von Holz und Lehm Kinder sofort abhole und diese bei ihrer Entwicklung unterstütze. Der Bau wurde zu einem großen Teil mit privaten Geldern finanziert.
Lehm aus der Baugrube
Für die Lehmoberflächen wurde das Aushubmaterial aus der Baugrube verwendet. „Der Lehmaushub der Rudolf Steiner-Schule wurde genau untersucht und diverse Probekörper hergestellt, um die Gebrauchstauglichkeit zu prüfen. Es zeigte sich ein Grundmaterial, mit dem man hochwertige Oberflächen herstellen kann. So sind 2500 m2 Lehmoberflächen im Schulgebäude mit dem Aushub aus dem eigenen Grund hergestellt worden“, erklärt Breuss. Innovativ und praktisch sei diese Technik allemal, passiere bisher aber sonst kaum, wie Breuss weiß. Das liege unter anderem an den rechtlichen Rahmenbedingungen. Lange Zeit galt der Aushub einer Baugrube automatisch als Abfall und musste entsorgt werden. Nach einem EuGH-Urteil von Ende 2022 ist das nun nicht mehr so – das könnte den Aufschwung des Lehmbaus deutlich beschleunigen. An der TU Wien wird ebenfalls geforscht, wie man Lehm für moderne Bauprojekte einsetzen könnte. Mit dem Unternehmen pro Lehm hatte Breuss zudem professionelle Partner zur Seite, die sich an die Weiterverarbeitung des hauseigenen Lehms herantrauten. Der Bauherr kann bei der Schulerweiterung so auf Lowtech setzen und Kosten für die Gebäudetechnik, wie eine kontrollierte Wohnraumlüftung oder eine Klimaanlage, sparen. Diese Aufgabe übernimmt der Lehm ein Schulleben lang, ganz ohne Wartung oder Instandhaltung. Denn Lehm kann laut Breuss auch über Jahrzehnte seine Fähigkeiten nicht verlieren.
Projektdaten
Standort: Wien
Bauherr: Rudolf Steiner-Schulverein
Wettbewerb: 2014
Bauzeit: 2022 bis 2024
Architektur: Dietrich Untertrifaller; Andreas Breuss
Generalunternehmer: Handler Bau
Holzbau: Kurt Pock
Lehmputz: pro Lehm
Statik: Gschwandtl & Lindlbauer
Bauphysik: Dr. Pfeiler
Brandschutz: Hoyer Brandschutz
Landschaftsplanung: Carla Lo Landschaftsarchitektur
Verbaute Holzmenge: 867 m³
Holzarten: Fichte, Lärche, Tanne, Birke
Nutzfläche: 3125 m²
Grundfläche: 4277 m²