Das geht unter die (Schlangen-)Haut

Ein Artikel von Birgit Gruber | 07.01.2020 - 09:01
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Über kleine Balkone, die in einer Vielzahl überall am Gebäude angebracht wurden, gelangen die Mitarbeiter an die frische Luft.
© By Swatch (No Restriction)

Selten wurde bereits im Vorfeld so viel über ein Holzbauvorhaben medial berichtet und diskutiert wie über den geplanten Unternehmenssitz der beliebten Schweizer Uhrenmarke Swatch in Biel. „Was ist das? Eine hölzerne Riesenschlange, die sich an einem Bürobau am Bieler Flussufer festgebissen hat?“ – fragte man sich damals in einschlägigen Architekturmagazinen. Das war 2012. Zwei Jahre zuvor hatte der japanische Stararchitekt den Wettbewerb zur Neugestaltung des Firmenareals, das den Hauptsitz von Swatch und ein neues Produktionsgebäude für Omega beinhaltet, für sich entschieden. Ban realisierte für die Swatch Group bereits 2007 das Nicolas G. Hayek Center in Tokio. Die Neue Zürcher Zeitung schreibt: Der Japaner habe den Nachkommen des legendären Nicolas G. Hayek ein Haus gezeichnet, wie es die Schweiz noch nicht gesehen hat und das die Architektur dreifach ans Extrem führe: mit einer endlos wirkenden Wabenhülle, die das Bürohaus wie ein Fußballstadion einkleidet; mit einer Tragstruktur, die fast 2000 m3 einheimisches Holz verbaut; und mit einer offenen Bürolandschaft für 400 Leute. Der Urvater und Gründer des Uhrenimperiums verstarb 2010. Im Zuge der Eröffnungsfeierlichkeiten im Oktober erinnerte Tochter Nayla jedoch daran, dass es ihr Vater war, der die Idee zu diesen Neubauten hatte. „Es ist wichtig, dass eine Marke ihr Hauptquartier hat, es ist der Ausdruck ihrer DNA. Swatch hat endlich so eine Heimat gebraucht“, ergänzte Konzernerbe Nick Hayek. Diese Werbestrategie hat ihn schließlich auch mehr als 200 Mio. € gekostet.

Wie ein Schweizer Uhrenwerk: Präzision in Freiform

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Ein 3D-Modell bildet die Grundlage für die drei verschiedenen Rohlingstypen aus Brettschichtholz. Die Planungsphase dauerte drei Jahre. © Blumer Lehmann

Damit diese „extreme Architektur“ zu einer Umsetzung gelangte, beauftragte man das heimische Holzbauunternehmen Blumer-Lehmann, das sich der Herausforderung Bans gerne stellte. Nicht zum ersten Mal. Gemeinsam setzte man bereits das Tamedia-Gebäude in Zürich (2013) und das neue OMEGA-Produktionsgebäude (2017), das zum Biel-Komplex gehört, um. Zusammen schrieb man erneut ein Stück Holzbaugeschichte. Auf den Zehntelmillimeter genau planten die Projektverantwortlichen von Blumer- Lehmann den Freiform-Holzbau. Mithilfe parametrischer Planung sowie höchstpräziser Produktion, Logistik und Montage entstand dieses spektakuläre Bauwerk aus 100 % Schweizer Holz. „Der wichtigste Faktor für das Gelingen des Projekts waren trotz modernster Technologie die beteiligten Mitarbeiter. Alle mussten in ihrem Bereich exzellente Arbeit leisten, um dieses großartige Resultat zu erreichen. Ich bin stolz auf unsere Mannschaft“, freut sich Richard Jussel, Geschäftsführer bei Blumer-Lehmann.

Die Cité du Temps

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Eine gläserne Brücke verbindet das Swatch-  Gebäude mit der Cité du Temps. Darüber sieht man den hölzernen Schlangenkopf. © Swatch Group

Schlangenförmig zieht sich die 240 m lange und bis zu 35 m breite Holzkonstruktion des Swatch-Hauptgebäudes entlang des Flusses Schüss und „beißt“ sich am höchsten Punkt in den Neubau der Cité du Temps, ebenfalls ein Entwurf von Shigeru Ban. Sie bildet auf 80 mal 17 mal 28 m eine eigenständige architektonische Einheit, die dennoch das Swatch-Gebäude perfekt ergänzt. Jede ihrer insgesamt 14 Arkaden hat eine Spannweite von 15 m und ist 5 m breit. Die Cité du Temps beherbergt das Omega Museum im ersten Stockwerk sowie Planet Swatch auf der zweiten Ebene. Die der Swatch Group vorbehaltene Nicolas G. Hayek Conference Hall im vierten Obergeschoss sticht mit ihrer Ellipsenform prominent hervor. Auch hier kam spezialisiertes Holzbauwissen von Blumer-Lehmann zur Anwendung, da es sich um eine innovative Verbindung eines Holzskelett- und -elementbaus handelt.

„Das ist im Holzbau alles machbar“

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© Swatch

Das bis zu fünf Geschosse hohe Swatch-Reptil beherbergt auf 25.000 m2 Büro- und Lagerräume. Neben den regulären Arbeitsplätzen sind über das ganze Gebäude farbenfrohe Gemeinschaftsflächen verteilt: eine Cafeteria im Erdgeschoss, die allen Swatch-Angestellten und ihren Besuchern offen steht, sowie kleine Pausenzonen an verschiedenen Stellen im Gebäude. Wenn Privatsphäre benötigt wird, stehen separate „Alcove Cabins“ zur Verfügung, in denen bis zu sechs Mitarbeiter für Telefongespräche oder konzentriertes Arbeiten Platz finden. Die Bauarbeiten waren extrem anspruchsvoll. Mit einer Fläche von 11.000 m2 sei die Konstruktion die bisher größte Gitterschale, die in der Firmengeschichte realisiert worden ist, heißt es bei Blumer-Lehmann. „Die Form und die einzelnen Träger sind riesig und die Anforderungen an die Genauigkeit waren sehr hoch“, weiß Felix Holenstein, Projektleiter von Blumer Lehmann für das Swatch-Projekt. „Doch das ist im Holzbau alles machbar.“ 4600 Holzträger bilden die gesamte Holzkonstruktion. Kein Bauteil kommt in der gleichen Ausführung zwei Mal vor. „Immer das richtige Element zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu haben, damit die Montage während der Bauzeit planmäßig voranschreitet – das war die größte logistische Herausforderung. Ein Fehler in der Geometrie hätte einen Millionenschaden verursacht“, gibt Jussel in einem Unternehmensvideo preis. Fehlerausschaltung mittels exakter Planung war also die oberste Prämisse. Den Bauarbeiten war eine dreijährige 2D- und 3D-Planungsphase vorausgegangen, in der auch die Form auf ihre Machbarkeit und die Geometrie der Träger überprüft worden sind. Das Modell bildete die Grundlage für die drei verschiedenen und bis zu 13 m langen Rohlingstypen aus Brettschichtholz: „gerade“, „einsinnig gekrümmte“ und „zweisinnig gekrümmte“ Träger. „Eine weitere technische Hürde brachte die Entscheidung mit sich, die haustechnischen Leitungsführungen in die Tragwerksebene zu legen“, berichtet Holenstein.

Montage dauerte zehn Monate

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Aufgrund der passgenauen Produktion der BSH-Träger mussten die Elemente vor Ort von der Blumer-Lehmann-Mannschaft nur noch zusammengeschraubt werden. © Blumer Lehmann

Eine ebenso komplizierte Angelegenheit war die Planung der Montage. Nachdem entschieden war, wie man die ineinandergreifenden Teile Stoß auf Stoß montieren kann, wurde die Reihenfolge für die Montage festgelegt. Das betraf auch die Produktion der Trägerelemente, denn sie mussten exakt in dieser Reihenfolge produziert und auf die Baustelle gebracht werden. Die Bauteile wurden hauptsächlich auf zwei Anlagen in Gossau gefertigt. Weitere Produktionspartner im In- und Ausland waren mit Spezialmaschinen in die Bearbeitung involviert und mussten mit Produktionsdaten und Rohmaterial versorgt werden. „Vor Ort musste der Bausatz dann nur noch der Reihe nach zusammengesteckt werden. Der Hauptteil unserer Arbeit war im Spätsommer 2017 nach nur zehnmonatiger Montagephase abgeschlossen“, weiß Jussel. Verkleidet ist die Holzkonstruktion mit einer Fassade oder vielmehr mit einer Dachhaut aus drei verschiedenen Fassadentypen. Hier kamen geschlossene und gedämmte Teile, transparente Glaselemente, Sonnenschutzglas, Photovoltaik, Luftkissen aus ETFE-Folie sowie optische oder vielmehr akustisch wirksame Einlagen in Form von 124 hölzernen Schweizerkreuzen zum Einsatz. Insgesamt neun Balkone mit einer Größe von 10 bis 20 m2 gewähren auf mehreren Etagen Aus- und Einblicke.

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© Blumer Lehmann

Und was sagt der Architekt?

Shigeru Ban, der den Neubau als „Projekt seines Lebens“ bezeichnet, will von Metaphern wie Schlangen oder Drachen und all den Extremen nichts wissen. Er gibt sich gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung bescheiden und pragmatisch. Vielmehr folge der Bau nur den Parzellengrenzen und die Swatch-Uhren (von denen es bis heute 9154 verschiedene Modelle gibt) hätten ihn inspiriert: „Der Bogen ist von den Spielereien von Swatch hergeleitet. Zwar ist der Mechanismus im Inneren immer der Gleiche, aber das Äußere kann sich verändern.

Projektdaten

Standort: Hauptsitz der Swatch AG in Biel
Bauherr: Swatch AG
Fertigstellung: 2019
Architekt: Shigeru Ban Architects Europe
Generalplanung: Itten+Brechbühl AG
Holzbau: Blumer-Lehmann AG
Holzmenge: 2000 m3
Holzbauingenieur: SJB Kempter Fitze AG
Bauzeit: 2014-2019