Radikal umdenken, Handwerk aufwerten

Ein Artikel von Kathrin Lanz | 12.07.2024 - 09:47

Sie beschäftigen sich im Rahmen von Reuse-Projekten tagaus, tagein mit dem Thema klimabewusstes Bauen. Der Holzbau bringt auch als Neubau ganz klar den Ökologievorteil. Was fällt Ihnen noch dazu ein?
In unserer Praxis sehen wir, dass der Holzbau mit anderen biogenen Materialien in Kombination bauphysikalisch wunderbar funktioniert. Beispielsweise mit Lehmputz, Lehmbauplatten, Strohdämmung oder Holzfaser. Das ist ein Vorteil, da kann der Betonbau nicht mit. Worauf man allerdings noch stärkeren Fokus legen müsste, ist der sommerliche Wärmeschutz. Und das, ohne den Vorteil der Demontier- und Adaptierbarkeit zu verlieren.

Reuse, also das Wiederverwenden von bereits verbauten Materialien, verlangt einen Mehraufwand in der Planung. Wie kann man sich das in der Praxis vorstellen?
„Form follows Availability“, also Form folgt Verfügbarkeit, setzt ein radikales planerisches Umdenken voraus. Wettbewerbsrenderings gibt es in diesem Feld nicht mehr. Voraussetzung dafür ist eine Bauherrschaft, die mitspielt. Es ist durchaus herausfordernd, nicht zu wissen, wie das Gebäude am Ende aussieht. In der Schweiz arbeiten wir unter Einbezug der Stadtbildkommission und mit voller Transparenz des Wiederverwendbarkeitskonzepts. Das bedeutet selbstverständlich einen Mehraufwand in der Planung und stößt dann ob der eingesetzten Planungsressourcen hoffentlich auf Verständnis und keine Geht-Nicht-Mentalität.

Für Reuse-Projekte sind Fachkräfte unabdingbar. Diese Entwicklung könnte meiner Meinung nach wieder zu einer verstärkten Aufwertung des Handwerks führen.

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Christoph Müller, Zirkular
© Zirkular

Wenn Sie sagen, von planerischer Seite her ist ein Mehraufwand notwendig. Welche Mehrleistung muss das Handwerk liefern?
Es handelt sich beim Thema Wiederverwendbarkeit immer um individuelle Entscheidungen. Und hierfür bedarf es handwerklichen Wissens. Ein Beispiel: Wir wollten alte Fenster eines Abbruchhauses wiederverwenden, es bedurfte aber eines zusätzlichen Flügels. Ein Tischler ist jetzt gerade dabei, einen Prototyp zu entwickeln, bei dem an die alten zweiflügeligen Fenster ein dritter Flügel angebaut wird. So verlängern wir den Lebenszyklus der alten Fenster noch einmal. Ein Prozess, der ohne Handwerk undenkbar ist. Das heißt: Für Reuse-Projekte sind Fachkräfte unabdingbar. Diese Entwicklung könnte meiner Meinung nach wieder zu einer verstärkten Aufwertung des Handwerks führen.

Immer wieder kommt in Zusammenhang mit Reuse die Gewährleistungspflicht auf das Tableau. Gibt es hierzu schon eine Lösung?
Die harte Antwort lautet: Nein. Notwendig wäre es, in den ausführenden Unternehmen eine Kompetenz aufzubauen, die Beschaffung, Prüfung und Wiedereinbau überwacht. Das ist ein ganz neues Geschäftsfeld für die Branche. Ich würde mir wünschen, dass sich jedes Gewerk Kompetenzen aufbaut, damit der Fachplaner sich an kompetente Stellen wenden kann. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre es, die Materialbeschaffung mit allen Prüfschritten von der Planungsleistung zu trennen. Also nicht erst im Reuse-Prozess an die Prüfung zu gehen. Das setzt die Professionalisierung des Beschaffungsvorgangs voraus. Dann hätten wir das Thema Gewährleistung vom Tisch.

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Reuse inkludiert ein gewisses Maß an Unvorhersehbarkeit: An der Fassade macht sich das Konzept „Form follows Availability“ besonders bemerkbar – verwendet wird, was verfügbar ist. © Zirkular

Denken wir an die nächsten 20 Jahre. In unserer Vorstellung hat sich Reuse etabliert. Wie handhaben wir die Lagerung aller wiederverwendbaren Materialien?
Früher oder später kommt man immer zur Frage der Lagerung. Lager und Logistik sind tatsächlich die Kernthemen der Kreislaufwirtschaft. Aus meiner Sicht sind hier auch die Bauherrschaften von Neubauten gefragt. Ziel wäre es, gleich im Zuge einer Gebäude-Demontage die Wiederverwertung auszuschreiben. Die Problematik ist, dass der Markt heute noch nicht da ist Was ich mir auch wünschen würde, ist, dass die öffentliche Hand anmietbare Lagerflächen zur Verfügung stellt. Damit könnte man den Markt etwas nivellieren. Nach diesem Anstoß könnte sich die Attraktivität der Wirtschaftlichkeit einstellen. 

Mit welchen Mehrkosten muss man derzeit rechnen, wenn man einen hohen Anspruch an die Wiederverwendbarkeit seines Neubauprojekts stellt?
In der Planung oder beim Material? 

Stimmt, das sind zwei Paar Schuhe. Bei beidem.
Bei der Planung sind wir bei rund 20 Prozent über alle Planer verteilt. Je kleiner das Projekt, desto höher der Prozentsatz. Je offener die Architekten für neue Entwurfsprozesse sind, desto geringer der Prozentsatz. Beim Material ist es das Ziel, gleichpreisig mit dem neuen Produkt zu bleiben. Selbst wenn man das Produkt kostenlos bekommt, fallen Kosten für den Ausbau, planerische Veränderungen und möglichen Lageraufwand an. Da stellt sich die Frage: Muss das langfristig so bleiben? Oder werden die Erstellungsemissionen irgendwann etwas kosten und die Wiederverwendung lohnt sich auch wirtschaftlich.

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Wie es in Zukunft nicht aussehen soll: Politisch angeleitete Wiederverwendungskonzepte würden das verhindern. © Zirkular

Einfaches Bauen wird im Holzbau immer präsenter. Inwiefern spielt dieses Thema in die Wiederverwendbarkeit hinein?
Es kommt natürlich darauf an, mit welchen Architekten wir zusammenarbeiten. Aber intern ist es für uns Standard, so einfach wie möglich vorzugehen. Da leben wir die absolute Radikalität. Was geht noch weg? Fertig ist es, wenn man nichts mehr weglassen kann. Dabei kommen sehr ästhetische Lösungen heraus. Und wieder landen wir beim handwerklichen Wissen. Denn für einfache, wirtschaftliche und gleichzeitig bauphysikalisch funktionierende Lösungen braucht es Wissen. Angepasst an die Bauaufgabe, kann man mit Ausführenden gemeinsam unglaublich kreative Lösungen entwickeln.

Wir sprechen hier vom Bauen im Bestand. Wie sinnvoll ist ein Ersatzneubau?
Ich glaube, der Ersatzneubau hat wirklich kaum noch Platz. Gefragt ist es, die „low hanging fruits“ zu  ernten. Die Rechnung, einen Bau abzureißen und komplett neu aufzubauen und dabei die Betriebsemissionen zu senken, geht nicht auf. Ich werde aber keinem privaten Häuslbauer vorschreiben, am Platz eines Stadels kein Einfamilienhaus errichten zu dürfen. Da liegt aber auch nicht das große Potenzial. Es ist eine Berechnungsfrage. Die großen Potenziale, die es zu behirnen gilt, liegen im öffentlichen Wohnbau und bei Großinvestoren im Immobilienbereich. Man muss auch den ländlichen vom städtischen Bereich unterscheiden. Wien hätte enormes Potenzial, in Entwicklungsgebieten zu zeigen, was möglich ist.

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Reuse im Einklang mit Holz und Stroh: Solche Projekte verlangen handwerkliches Wissen und bauphysikalisches Know-how. © Zirkular

Am Ende ist die Politik gefordert. Wie lauten Ihre konkreten Vorstellungen?
Es braucht eine Verknüpfung von Rückbaubarkeit und Baubewilligung. Das heißt, ein Wiederverwendungskonzept muss Pflicht werden. Konkret heißt das: Möglichst viele wertige Materialien müssen verpflichtend für Reuse-Zwecke verwendet werden. Zudem braucht es Wettbewerbe, die Reuse-Konzepte mit konkreten Emissions-Zielwerten einfordern. Es braucht Grenzwerte für graue Energie, es sollten nicht nur Betriebs-, sondern auch Erstellungsemissionen nachgewiesen werden müssen. Abbruch vor 60 Jahren Bestehen ist ein No-Go. Das heißt, das  „Pensionsantrittsalter“ von Gebäuden muss angehoben werden. 

Zur Person

Christoph Müller gehört zum Team von Zirkular, einem Baubüro mit Standorten in Basel und Zürich. Das Konglomerat hat Kompetenz in den Bereichen Architektur, Design und Bauphysik. Im Zuge seiner Tätigkeit beschäftigt sich Müller intensiv mit dem Thema Kreislaufwirtschaft, im Detail mit allen komplexen Details, die das Thema in Bezug auf Beschaffung, Gewährleistung, Lagerung und Logisitk mit sich bringen. Daraus entstehen immer wieder spanende Praxisbeispiele, die veranschaulichen, wie Kreislaufwirtschaft funktionieren kann.