Vom Aussterben bedroht
Das sogenannte Hochstudhaus war von seiner Konstruktionsweise her der vorherrschende bäuerliche Gebäudetyp im Kanton Aargau. Auch wenn der Begriff nicht geläufig ist, sind diese alten Bauernhäuser von außen recht gut erkennbar. Es ist seine Dachform, die es so markant macht. Das Dach reicht fast bis zum Boden. Mit Hochstud bezeichnet man die Firstsäulen – Stützen, die den Firstbalken tragen –, auf dem die Rafen (Sparren) liegen. „Eigentlich ist das Hochstudhaus mit einem hölzernen Zelt vergleichbar. Kräftige Holzständer tragen den Firstbalken. Von diesem herab hängen verzapfte Rundbalken wie ein Kirschenpaar über die Außenwände“, weiß der Züricher Architekt Gian Salis. Nach diesem Prinzip habe man schon die ersten Bauernhäuser in der Jungsteinzeit gebaut. Der Grund für das übermächtige Dach liege im ursprünglichen Bedachungsmaterial, das damals zur Verfügung stand: „Die Häuser wurden mit Stroh eingedeckt. Damit das Stroh nicht zu faulen beginnt, musste das Regenwasser schnell abfließen können. Möglichst steile Dächer waren dafür die beste Lösung“, erklärt Salis. Das Stroh wurde später durch Ziegel ersetzt.
Heutzutage ist dieser Gebäudetyp leider vom Aussterben bedroht. Im Kanton Aargau sind laut Departement Bildung, Kultur und Sport noch insgesamt 160 Hochstudhäuser dokumentiert. Nur gerade 20 stehen unter kantonalem Schutz. Die anderen können mit dem Einverständnis der Gemeinde abgerissen werden und so fordert der Bauboom seine Opfer. Das Mittelalter-Team der Kantonsarchäologie erfasst diese jeweils vor dem Abriss, erweist den Bauten damit sozusagen die letzte Ehre und bewahrt mit der Dokumentation zumindest ein Stück Baukultur.
Ein Ort der Kultur und Musik
Ein denkmalgeschütztes Hochstudhaus befindet sich im Ensemble des Künstlerhauses Boswil, das von der gleichnamigen Stiftung verwaltet wird. Der Ort hat eine interessante Geschichte und besteht aus einer entweihten Kirche auf einem Moränenhügel, einem darunterliegenden Pfarr- und einem Sigristenhaus, das den Messdienern als Unterkunft zur Verfügung stand. Dem kulturellen Erbe nahm sich in jüngster Vergangenheit ein Glasmaler an. Er gründete eine Stiftung für mittellose Künstler, welche in der Kirche Benefizkonzerte veranstalteten. Später wurde daraus ein Ort der Musik. Die Stiftung wird heute vom Kanton Aargau gefördert und von Sponsoren unterstützt. Seit 2006 gilt es als herausragendes Musikzentrum im Aargau, das Konzerte auf internationalem Niveau mit einem breiten Förderprogramm für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene verbindet. Auch in der Fachwelt genießt es einen ausgezeichneten Ruf. Die Boswiler Akademie bietet eine breite Palette von Kursen für Profis und Amateure. Das ehemalige Pfarrhaus dient seither als Gästehaus, das Sigristenhaus, in dem der Glasmaler bis zu seinem Ableben selbst wohnte, war bislang ungenutzt. „Das Platzangebot wurde mit der Zeit einfach zu knapp. Angemessene Probe- und Büroräume fehlten und im Pfarrhaus gab es zu wenige Gästezimmer“, erzählt Salis, der 2014 einen von der Stiftung ausgeschriebenen Wettbewerb für bauliche Maßnahmen am Künstlerhaus Boswil für sich entscheiden konnte. Zwei unterschiedliche Aufgaben galt es dabei zu lösen: „Zum einen realisierte mein Büro den Anbau eines Konzertfoyers an die Kirche. Zusätzlich initiierte die Stiftung als Bauherr den Umbau des ehemaligen Sigristenhauses, in dem weitere Gästezimmer, Probe- und Büroräume Platz finden sollten“, erläutert Salis.
Keine Liebe auf den ersten Blick
Der Planer führt ein kleines Architekturbüro in Zürich und hat sich mit den Jahren auf ungewöhnliche Bauaufgaben spezialisiert. Salis liebt Projekte, die architektonisch eine spezielle Herangehensweise erfordern. „Ich bin ein Tüftler. Mich interessieren die unterschiedlichsten Materialien. Aus diesem Grund habe ich schon sehr viel mit Holz und Lehm gebaut. Natürliche Baustoffe liegen mir einfach. Architektur bedeutet für mich auch Kultur, denn man baut immer an Orten, die mit einer Geschichte verankert sind und entwickelt diese im besten Fall weiter.“ Doch als Salis das Sigristenhaus zum ersten Mal betrat, fühlte er sich von den vielen Einbauten erschlagen und fand sich in den vielen dunklen Treppen und Gängen nicht zurecht. „Das Haus wurde mehrmals umgebaut, das letzte Mal in den 1970er- und 1980er-Jahren vom Glasmaler selbst. Wir fanden wilde Raumstrukturen vor, das Tenn – also die ehemalige Scheune – war ein dunkles Labyrinth. An den Wänden befanden sich grässliche Farben und die Böden waren mit schweren Teppichen abgedeckt“, schaudert es Salis noch heute und er ergänzt: „Es war wahrlich nicht die Liebe auf den ersten Blick und der historische Hochstud nur mehr fragmentarisch erlebbar.“ Im Frühling 2018 untersuchte die Kantonsarchäologie Aargau die Baugeschichte des Sigristenhauses und kam zu dem Ergebnis: „Sein Bauholz wurde in den Winterhalbjahren 1697/98 und 1698/99 gefällt. Demnach wurde das Gebäude ums Jahr 1700 herum errichtet und erfuhr in den nachfolgenden Jahrhunderten einige Umbauten. Zu den wichtigsten Veränderungen gehören der Anbau eines Stalles sowie die Verbreiterung des Wohntraktes um je eine Kammer im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Zudem wurde in jener Zeit auch das gesamte Haus hangfußseitig unterkellert.“ Durch den Anbau wurde das Dach angehoben – kleine Holzpfosten spreizen dort die Rafen von den Wandpfetten ab – und zeigt seither einen eigenartigen Schwung. Unterteilt ist das Haus in den Wohn- und Ökonomietrakt. Zu letzterem gehören eine Tenne, ein Entree, ein Treppenhaus sowie zwei Ställe. „Im Stallbereich hat das Dach eine Neigung von 50°, im Wohnbereich sind es hingegen nur 45°“, erklärt Salis ein sehr prägnantes Detail.
Modell half, das Haus zu verstehen
Da der Architekt mit der Hochstudkonstruktion ohnehin nicht vertraut war, baute er zunächst ein Modell, um die Tragstruktur des Gebäudes besser verstehen zu können. Im Gegensatz zu anderen Wettbewerbsteilnehmern war es Salis außerdem wichtig, alle neuen Räume unter das gewaltige Dach zu bringen. Er ging dabei sehr behutsam vor, doch im Tenn hat er alle im 20. Jahrhundert eingezogenen Böden herausgerissen. Sein Ziel: „Ich wollte den großen Platz in der Scheune wieder freispielen und den Innenraum über die gesamte Höhe erlebbar machen.“ Ganz wesentliche Details sind dabei die Ständerpfosten unterm First. „Zwischen diesen steigt man nun im Tenn über Treppen empor und folgt ihnen mit der Bewegung bis unters Dach. So geht das architektonische Konzept mit dem konstruktiven eine Art Hochzeit ein“, erzählt Salis über den Einstieg in dieses nicht alltägliche Projekt.
Einst und Jetzt
Nach einer genauen Analyse des Bestands wurden die neuen Nutzungen dort eingeplant, wo sie am besten in die alte Struktur passen. Das Gebäude ist in Achsen aufgebaut. Ganz rechts liegen die ehemaligen Wohnkammern, ein Gang sowie die ehemalige Küche. In der Mitte liegt der Tenn, gefolgt von zwei Ställen links: „Im hohen Dachgeschoss entstanden zwei giebelseitig belichtete Proberäume mit optimierter Akustik für Musikproben. In den alten Kammern im Obergeschoss sowie im Heustock wurden sieben Gästezimmer (fünf Doppel- und zwei Einzelzimmer) mit je eigenem Bad erstellt. Und in den alten Täferstuben im Erdgeschoss befinden sich jetzt Büroräume, in den Ställen die Werkstatt sowie das Lager. Die gemeinsame Erschließung erfolgt über eine neue Treppe aus Schwarzstahl im ausgeräumten ehemaligen Tenn“, berichtet der Architekt. Betreten wird das Gebäude durch eine große Flügeltür aus Glas, die direkt ins Tenn, also in die öffentliche Zone, führt. Rechts vom Eingang befinden sich die Gebäudeverwaltung und eine hölzerne Rezeption. Dort erhält der
Gast seinen Zimmerschlüssel.
Altes erstrahlt im hellen Glanz
Die Lichtsituation im Gebäude war durch das große Dach alles andere als ideal. Hier musste eine zufriedenstellende Lösung her. Durch ein vorgefundenes Dachziegelfenster fällt ein über den Tag wandernder Sonnenfleck ins Tenn und belebt dieses. Weitere neue Sicht- und Lichtachsen, zum Beispiel zwischen dem Eingangstor und dem Besprechungsraum im Erdgeschoss, geben dem Haus eine innere Großzügigkeit. „Aufgrund des Denkmalschutzes durften wir keine weiteren Fenster im Dach einbauen und mussten die giebelseitig eingebauten großzügigen Fenster mit Holzlamellen verkleiden. Unser Ansprechpartner von der kantonalen Denkmalpflege ist selbst ausgebildeter Zimmerer. Das machte die gemeinsame Arbeit einfacher“, gibt der Architekt zu.
Notwendige bauliche Veränderungen
„Wir kamen über eine Ausschreibung zu diesem speziellen Projekt und wussten gleich, dass der Umbau nicht einfach werden würde. Zudem stellte Gian Salis große Ansprüche an die Architektur“, denkt Andreas Treier an die Anfangsphase des Projektes zurück. Er ist der zuständige Projektleiter bei Schäfer Holzbautechnik aus Aarau. Das Unternehmen ist mit 50 Mitarbeitern gut aufgestellt, als Holding organisiert und bietet unter anderem als Generalunternehmer auch schlüsselfertige Holzhäuser an. „Ich sage immer, wir sind das Kompetenzzentrum für Holz in der Schweiz“, zeigt sich Geschäftsführer Hansjörg Steiner stolz, der privat gerne Konzerte im Künstlerhaus Boswil besucht. „Der Ort ist unter Kulturliebhabern europaweit bekannt und aufgrund seiner Topmusiker überall in der Presse. Mit der Erhaltung des historischen Holzbaus bzw. seiner Neuinterpretation haben wir ein positives und nachhaltiges Zeichen gesetzt“, freut sich Steiner. Die baulichen Ertüchtigungen sind zwar schnell erklärt, in der Ausführung erinnerten sie den Projektleiter aber oft an ein kompliziertes Puzzle. Dabei wurde konsequent mit Holz gearbeitet: Fichte für die Tragstruktur, Tanne für den Innenausbau, Hainbuche für die Möbel. Zunächst war das Dach vollkommen unterdimensioniert und musste verstärkt werden. Da der Architekt von der Bestandskonstruktion so fasziniert war, ging das Holzbauunternehmen dabei sehr demütig vor. „Im Inneren sind die alten Dachsparren erlebbar. Darüber wurde eine den heutigen Anforderungen entsprechende Dachkonstruktion erstellt, welche auf der alten aufliegt. Die bestehende Lastabtragung musste so nur verstärkt werden. Im Vordachbereich haben wir zum Beispiel die neuen, entsprechend höher liegenden Sparren mit kleinen Pfosten auf die alten Pfetten abgestützt, so wie die alten Sparren auf den Fußpfetten aufgeständert waren“, erklärt Treier. Zum Eindecken nahm man die alten Biberschwanzziegel her. „Das Dach erhält dadurch einen textilen Charakter und zeigt sich als schöne kraftvolle Fläche“, fügt Salis hinzu. Weder Aufbauten noch Abluftrohre stören dieses Bild. „Wir haben spezielle Entlüftungsklappen hinter den Spiegelschränken der Badezimmer eingebaut“, weiß der Projektleiter. Als das Holzhaus abgedeckt und soweit ausgeräumt war, betonierten und mauerten die Handwerker neue, tieferliegende Fundamente unter die Schwellen. Nach und nach entstand ein Neubau im Bestand: ein zellulosegedämmter, mit OSB-Platten beplankter Holzständerbau entlang der alten Fassade, die jetzt nur mehr die Funktion einer Art Schachtel hat. Der Liftkern wurde aus Beton hochgezogen. An ihm sind die Decken angeschlossen. „Dieser steift das Haus nicht bloß aus, im Verbund mit der alten Hochstudkonstruktion trägt er auch einen Teil vom aufgedoppelten Dach“, so Treier. In den Innenräumen wurden teilweise die alten Täfer wiederverwendet, teilweise mussten sie ersetzt werden. Hinter den alten Fenstern wurden auf der Innenseite neue Isolierglas-Fenster eingebaut. „Das alte rauchgeschwärzte Holz wurde sanft mit weicher Bürste gewaschen, die abgewetzten Bodendielen gehobelt und zum Großteil wieder eingebaut. Je dunkler das Holz, umso älter ist es“, freut sich der Architekt. Im Eingangsbereich oberhalb der Rezeption liegen so alte Bretter, die bis zu 55 cm breit sind. Dort befinden sich auch Bodenbretter an den Wänden. Ein hellerer Abdruck von den Balken zeugt von dieser einstigen Verwendung. „Heutzutage lässt man Bäume nicht mehr so groß wachsen, weil sie in weiterer Folge schwer zu verarbeiten sind“, plaudert der Planer aus dem historischen Nähkästchen. In dieser Manier wurde auch im Obergeschoss das Alte liebevoll gereinigt und wo nötig um Neues ergänzt.
Akustik, Schall- und Brandschutz
Entsprechend der Nutzung waren hohe Anforderungen an Schallschutz und Brandschutz gestellt. „Dank eines objektspezifischen Brandschutzkonzeptes wurden auch im vertikalen Fluchtweg hölzerne Oberflächen möglich. Die Zwischenwände sind nur auf einer Seite alt, denn jedes Zimmer musste akustisch gut gedämmt und außerdem ein eigener Brandabschnitt sein“, erklärt Salis. Die Silence-Deckenelemente des Schweizer Herstellers Lignatur sorgen für die notwendige Ruhe. „Der Schallschutz wurde im Haus phänomenal gelöst. Wir hatten unlängst eine Klausur im Konferenzzimmer unter dem Dach. Vis-à-vis befindet sich der große Konzertsaal, räumlich nur durch den Gang und das Stiegenhaus getrennt. Trotz der Probe mit Blasinstrumenten wurde unsere Konferenz von keinem Geräusch gestört“, erzählt Holzbaumeister Steiner. Das umgebaute Sigristenhaus wurde nach zweijähriger Bauzeit im April des heurigen Jahres in Betrieb genommen. „Die Inbetriebnahme des umgebauten Hauses ist ein großer Meilenstein für das Künstlerhaus. Diese wird unsere Aktivitäten nachhaltig beeinflussen und verändern“, schreibt der Geschäftsführer vom Künstlerhaus Boswil. Auch wenn die offizielle Eröffnung coronabedingt bis Mitte Oktober warten musste.
Projektdaten
Standort: Boswil, CH
Baubeginn: 2019
Fertigstellung: 2021
Bauherr: Stiftung Künstlerhaus Boswil
Architektur: Gian Salis Architektur GmbH
Holzbau: Schäfer Holzbautechnik
Bauleitung: Hüsser+Partner Architekten
Holzbauingenieur und Brandschutz: Makiol+Wiederkehr
Bauphysik: BWS Bauphysik AG
Denkmalpflege: Philipp Schneider, Kantonaler Denkmalpfleger Aargau
Bruttogeschossfläche: ca. 927 m2