Fest mit der Natur verbunden. Tief verwurzelte Traditionen. Aber auch eine starke Stimme für die Zukunft. Das sind die Samen (Sámi), die Ureinwohner des hohen Nordens Europas. Sie leben in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland, in einer Region, die als Sápmi bekannt ist. Diese erstreckt sich über die nördlichen Teile dieser Länder, wobei die größte samische Bevölkerung in Norwegen, vor allem in der Provinz Finnmark, zu finden ist. Die Rentierzucht und das Handwerk spielen dort seit Jahrhunderten eine zentrale Rolle. Heute erfährt die samische Identität eine moderne Wiederbelebung. Dies zeigt sich vor allem in einer dynamischen Kunst- und Kulturszene. Trotz historischer Herausforderungen setzen sich die Samen aktiv für den Erhalt ihrer Sprache und Lebensweise ein und bringen ihr reiches Erbe in die moderne Welt. Eine neue Einrichtung soll die Wichtigkeit dieses ursprünglichen Volkes seit diesem Jahr noch mehr unterstreichen.
Das Holzgebäude befindet sich in Kautokeino inmitten der Finnmarksvidda, Norwegens größter und nördlichster Hochebene. Alle vier Fassaden des Gebäudes beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf die verschiedenen Landschaftsräume, die sie umgeben. Der Name „Čoarvemátta“ leitet sich von den samischen Wörtern „čoarvi“ und „mátta“ ab, die „Horn“ und „Wurzel“ bedeuten und den stärksten Teil des Rentiergeweihs bezeichnen, der häufig für Duodji, das traditionelle samische Kunsthandwerk, verwendet wird. Snøhetta entwickelte dafür das Konzept gemeinsam mit dem Architekturbüro 70°N arkitektur, dem Holzbauunternehmen Econor und dem Künstler Joar Nango. Der Siegerentwurf eines Architekturwettbewerbs wurde im Jahr 2021 eingereicht. Jetzt wurde der markante Neubau eingeweiht.
Elemente der samischen Bautradition
Das zweigeschoßige Kulturhaus beherbergt das samische Nationaltheater Beaivváš, das Sami-Gymnasium sowie eine Rentierzuchtschule. Das Dach fällt auf beiden Seiten des Gebäudes im Norden und Süden ab, um die Höhenwirkung des Projekts aus der Ferne zu minimieren. Gleichzeitig bildet es den Zugang im Südwesten. Das 7200 m2 große Projekt hat eine verzweigte Architektur, die von einem zentralen Haupteingang und einem großzügigen Foyer ausgeht. Dieser Bereich dient als Treffpunkt für die Besucher der Schule und des Theaters. Von hier aus verzweigt sich das Gebäude in drei Richtungen: ein Flügel für das Theater, einer für Werkstätten und Unterrichtsräume, und ein weiterer für die Verwaltung der Schule.
Die sanften, geschwungenen Linien, die mit Oberlichtern ausgestattete Vorhalle sowie die sichtbare, tragende Holzkonstruktion erinnern an die für die Rentierzuchtgebiete der Samen typischen Bauwerke wie das Lávvu (Kegelzelt). „Die Gestaltung des Gebäudes folgte der Idee, ein zusammenhängendes Volumen für Schule und Theater zu schaffen, das die verschiedenen Funktionen um einen zentralen Treffpunkt gruppiert. Elemente der samischen Bautradition, wie das Oberlicht im Vestibül, die sichtbare Tragstruktur und das weich geformte Dach, das sich zum Eingang hin öffnet, haben ebenfalls Eingang in das Designkonzept gefunden“, erläutert Bård Vaag Stangnes, leitender Architekt bei Snøhetta und Projektleiter von Čoarvemátta. Das sechseckige Fenster am Schnittpunkt der Dachlinien lässt Tageslicht in den Raum und verweist auf ein Rauchloch, wie es für Holzbauten in der Region typisch ist. Vom Foyer aus gelangt man über eine breite Treppe, die auch als Sitzgelegenheit dient, in eine obere Etage. Die rot gestrichenen Wände dienen dort als Ausstellungsflächen für lebendige Kunstwerke. Diese wurden für das neue Gebäude teilweise extra in Auftrag gegeben beziehungsweise stammen von bekannten und einflussreichen Künstlern Sápmis.
Ressourcen nachhaltig pflegen und nutzen
1988 wurde die Nationale Schule für Rentierzucht mit der Samischen Oberschule fusioniert. Fünf Jahre später erlangte Beaivváš den Status einer der vier nationalen Theaterinstitutionen Norwegens. Seither spielen sie eine zentrale Rolle in der Förderung der samischen Kultur und Bildung. Beide Institutionen hatten schon lange einen Bedarf an neuen Räumlichkeiten. Das neue Gebäude schafft nun Synergien zwischen seinen Nutzern, zwischen Theater und Schule sowie zwischen Architektur und der umgebenden Landschaft. Dies entspricht der samischen Philosophie, alle verfügbaren Ressourcen nachhaltig zu pflegen und einzusetzen. „Wir sind stolz darauf, dieses lang ersehnte und bedeutende Gebäude realisiert zu haben. Ein Theater und eine Rentierzuchtschule zu kombinieren, bietet für Planer ein faszinierendes Aufgabenfeld. Es ist ein Zeichen guter Architektur, dass dies gelungen ist. Das Projekt zeigt zudem eine herausragende Ressourcennutzung, was auch im traditionellen samischen Handwerk eine zentrale Rolle spielt. Ein grundlegendes Prinzip dabei ist, dass zum Beispiel jedes Teil des Rentiers verwendet wird – von der Haut bis hin zum Geweih“, erklärt Kjetil Trædal Thorsen, Gründungspartner von Snøhetta.
Die Außenfassade des Gebäudes besteht aus Erzkiefer, während das Dach mit Kebony-Holz eingedeckt ist. Eine Giebelwand des Theaterflügels ist mit Schiefersteinen verkleidet, die von der alten Grundschule des Dorfes stammen.
Die Natur immer im Mittelpunkt
„Unser Ziel war es, das Gebäude so naturnah wie möglich zu gestalten. Wir haben deshalb nur natürliche Materialien wie Holz und Stein verwendet. Das neue Zentrum passt sich den Konturen des Geländes an. Das Dach zieht sich bis zum Boden hinunter, sodass es förmlich mit der Landschaft verschmilzt“, weiß der Projektleiter. Da in der samischen Kultur die Landschaft eine wichtige Rolle spielt, wurde den Außenflächen viel Zeit gewidmet. „In der samischen Kultur gibt es keine Tradition, Landschaften zu Parks oder städtischen Räumen zu kultivieren. Wenn man das Lávvu verlässt, befindet man sich direkt in der Natur.Ein Großteil des Projekts bestand deshalb darin, eine Strategie für Begrünung und Geländeformung zu entwickeln“, berichtet die leitende Landschaftsarchitektin Thea Kvamme Hartmann. Die Form des Gebäudes schafft auf natürliche Weise drei Außenbereiche. Im Süden befindet sich neben dem Haupteingang auch ein kleiner Vorplatz als kreisförmiger Bereich mit Feuerstelle (Arran), Sitzsteinen und einem kleinen Amphitheater.
Auf der anderen Seite des Theaterflügels gibt es einen Außenbereich, der für den Unterricht der Schule vorgesehen ist. Dieser Raum ist vor Wind geschützt. Im Norden des Gebäudes erstrecken sich große Flächen mit Rentierzäunen, die direkt mit der Rentierzuchtabteilung im Inneren verbunden sind. Im Osten schließt das Plateau natürlich an das Gebäude an, wobei Gelände und Vegetation so weit wie möglich erhalten geblieben sind. Während der Bauarbeiten haben die Planer den abgetragenen Boden konserviert. Die oberste Erdschicht wurde zwischengelagert und anschließend um das Gebäude herum mit den ursprünglichen Samenbeständen wieder aufgetragen.
Neubau mit Passivhausstandard
Čoarvemátta wurde als Passivhaus konzipiert. Es entspricht höchsten Qualitätsstandards, verfügt über ein ausgezeichnetes Raumklima und hat einen extrem niedrigen Energiebedarf. Der Holzneubau ist zu 90 % energieautark in Bezug auf Heizung und Kühlung, wobei er auf Brunnen und Wärmepumpen zurückgreift. Dazu wurden 40 Erdbohrungen durchgeführt, die etwa 250 m tief reichen. Die Brunnen versorgen zwei Wärmepumpen, die das Gebäude heizen und kühlen. Zudem sorgen Wärmetauscher dafür, dass überschüssige Wärme in die Energiebrunnen zurückgeführt wird. An besonders kalten Wintertagen wird das System durch einen Elektrokessel ergänzt. Das Projekt verfolgt zudem ehrgeizige Umweltziele. Es soll eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um mindestens 30 % im Vergleich zu einem herkömmlichen Gebäude erreichen. Diese Einsparungen betreffen nicht nur den Energieverbrauch, sondern den gesamten Bauprozess sowie die verwendeten Materialien.
Projektdaten
Standort: Kautokeino, Norwegen
Bauherr: Statsbygg
Fertigstellung: 2024
Architektur: Snøhetta; 70°N arkitektur; Joar Nango
Holzbau: Econor
Gebäude- und Brandschutztechnik: Norconsult
Bauingenieur: AB Consult
Gesamtgröße: 7100 m²