Leichtbau auf höchster Stufe

Ein Artikel von Birgit Gruber | 15.05.2024 - 13:20
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Der Wangen Turm auf der Landesgartenschau in Wangen im Allgäu. © Roland Halbe

„Der Wangen Turm und der Hybrid-Flachs Pavillon sind das Ergebnis langjähriger Forschung des Exzellenzclusters. Die Bauwerke wurden in Kooperation mit regionalen Unternehmen umgesetzt. So soll der gegenseitige Wissenstransfer zwischen Forschung und ausführenden Unternehmen sichergestellt werden mit dem Ziel, die Bauprozesse ökologisch zu optimieren und damit wichtige Grundsteine für die Bauwende zu legen“, sagte Professor Achim Menges, Sprecher des Exzellenzclusters Integratives computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur (IntCDC), im Rahmen der Eröffnungsfeier der Landesgartenschau in Wangen.

Nach nur knapp zehn Monaten Planungszeit wurden der Wangen Turm und der Hybrid-Flachs Pavillon am 26. April eingeweiht. Die ausdifferenzierten und somit besonders ressourcenschonenden, vollständig rückbau- und wiederverwendbaren Konstruktionen wurden durch integrative computerbasierte Planungsmethoden und digitale Fertigungsprozesse ermöglicht. Sie zeigen den Besuchern auf unterschiedliche Weise, wie biobasierte Materialien neue Wege für eine regenerative Architektur ermöglichen. Bis zum 6. Oktober sind beide Bauten als Teil der Landesgartenschau erlebbar, sie verbleiben nach Ausstellungsende auf dem Gelände.

Feuchtigkeitsbedingtes Schwinden und Verformen als Vorteil

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© ICD/ITKE/IntCDC Universität Stuttgart

Die 23 m hohe, neuartige Konstruktion des Turms besteht aus 12 tragenden, gebogenen Brettsperrholzsegmenten (BSP) mit einem Querschnitt von nur 130 mm. Die globale Geometrie des Turms, kombiniert mit den lokalen Krümmungen der BSP-Elemente, führt zu einem neuartigen flächenaktiven Holztragwerk, das die entscheidenden horizontalen Windlasten trägt und dem Turm seine markante, gewundene Silhouette verleiht. Die Krümmung gibt den Bauteilen dabei zusätzliche Steifigkeit, ähnlich wie bei Wellblechen. Der Aufstieg über die 113 Stufen zur Aussichtsplattform bietet eine visuelle und haptische Verbindung zur Materialität der innovativen Holzstruktur des Turms. Beim Austritt auf die Aussichtsplattform ergibt sich ein beeindruckender Blick auf die umliegende Landschaft. Der Wangen Turm ist laut Herstellern der weltweit erste begehbare Aussichtsturm, der gekrümmte großformatige Bauteile verwendet, die sich durch das Schwinden des Holzes selbsttätig formen. Für die Herstellung der selbstgeformten BSP-Bauteile wurde heimisches Fichtenholz verwendet. 

Computerbasierte Entwurfs- und Simulationsmethoden

Jedes Tragwerkssegment des Turms besteht aus drei einzelnen BSP-Elementen, die 5-achsig CNC-gefräst und mit einer eigens entwickelten, in den Querschnitt eingelassenen Laschenverbindung präzise verbunden wurden, um durchgängige BSP-Elemente bei gleichbleibenden Querschnittsabmessungen zu ermöglichen. Bereits in der Werkhalle wurden die zwölf Turmbauteile in Zweiergruppen vormontiert, wodurch die Bauzeit vor Ort entscheidend verkürzt werden konnte. Auch die schlanken Stahlverbinder, die das statische Bindeglied zwischen dem Holztragwerk und dem Treppenhaus darstellen, sowie die meisten der 168 Lärchenholzpaneele der Fassade wurden in der Fabrik vormontiert. 

Ausstellungsgebäude demonstriert biobasierte Baumethoden

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Das Dach des Pavillons ist eine Hybridkonstruktion aus Brettsperrholzplatten und Flachsfasern.  © Roland Halbe

Ein Hybrid-Flachs Pavillon ist ein weiterer zentraler Ausstellungsbau auf dem Landesgartenschaugelände. Der Pavillon zeigt erstmals eine Holz-Naturfaser-Hybridkonstruktion als Alternative zu konventionellen Bauweisen. „Dieser Pavillon ist das erste Gebäude weltweit, das auf diese Weise Naturfasern verwendet. Die Schneelast, die der Pavillon in Wangen tragen muss, beträgt bis zu 360 kg/mund ist damit außergewöhnlich hoch“, sagt Professor Jan Knippers, Leiter des Instituts für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen an der Universität Stuttgart.

Die in dieser Form einzigartige Konstruktion kombiniert schlanke Brettsperrhölzer mit robotisch gewickelten Flachsfaserkörpern in einem neuartigen, ressourcenschonenden Tragsystem aus regionalen, biobasierten Bauwerkstoffen mit einem besonderen örtlichen Bezug. So wurde Flachs vormals in der örtlichen Textilindustrie verarbeitet, deren altes Spinnereigelände im Zuge der Landesgartenschau saniert wurde. Die wellenartige Dachkonstruktion bietet, gemeinsam mit dem kreisförmigen Grundriss und dem zentral angeordneten Klimagarten, einen fließend in die Landschaft übergehenden Raum.

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Der Hybrid-Flachs Pavillon ist ein zentraler und dauerhafter Ausstellungsbau auf dem Landesgartenschaugelände. © Roland Halbe

Innovatives Hybridbausystem aus Naturfasern

Das Dach des Pavillons stellt laut Knippers die weltweit erste Hybridkonstruktion aus Brettsperrholzplatten und Naturfaserkörpern dar, die durch kernloses Wickeln von Flachsfasern hergestellt wurde. Die 20 Hybridbauteile wechseln sich mit herkömmlichen Holzelementen ab und bilden die charakteristische wellenförmige Struktur des Daches, das die 380 m² große Ausstellungsfläche überspannt. Ziel dieses neuartigen hybriden Bausystems ist es, einen weitläufigen stützenfreien Raum zu schaffen und gleichzeitig den Materialeinsatz zu minimieren, indem die Synergie zwischen Holz und Naturfaserverbundstoffen genutzt wird. Die Vor-Ort-Montage aller 44 Deckenelemente wurde dank praxisnaher, interdisziplinärer Planung und der hochpräzisen Vorfertigung in acht Tagen abgeschlossen.

Quelle: Universität Stuttgart