Holzfeuchte formt Tragwerk

Ein Artikel von Kathrin Lanz | 07.11.2023 - 08:31

HygroShell steht für die Forscher der Universität Stuttgart an der Spitze eines Paradigmenwechsels. Für das Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD, Prof. Achim Menges) und das
Institut für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen (ITKE, Prof. J. Knippers) ist klar: Es geht von einer Ära des Energieüberflusses und der industriellen Materialien zu einer Ära der Energieknappheit und der natürlichen Ressourcen. In diesem Spannungsfeld wird Materialintelligenz für die Forscher zum Synonym für Konstruktionslogik.

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Die Struktur von HygroShell besteht aus einer 10 m langen Hauptspannweite aus sich verschneidenden bogenförmigen Gewölben, die auf drei gelenkigen Stützen ruhen. © ITECH/ICD/ITKE University of Stuttgart

Ihr jüngster Forschungspavillon HygroShell, derzeit auf der Chicago Architecture Biennal 2023 ausgestellt, nutzt die hygroskopischen Materialeigenschaften von Holz zur Erzeugung von Form und Struktur. Es handelt sich um die Erforschung eines neuartigen, selbstformenden Holzbausystems für autonomes Bauen, demonstriert durch eine weitspannende, leichte Schale aus einzelnen gebogenen Holzkomponenten.

Herstellung in flachem Zustand

Das System nutzt also Fortschritte im computerbasierten Entwerfen, um das feuchtigkeitsbedingte Schwinden im Holz für die In-Situ-Formung von planaren Bauelementen zu aktivieren. Das Ergebnis ist eine filigrane und doch funktionale, gebogene Dachkonstruktion mit einer Spannweite von 10 m und einem unglaublich dünnen 28 mm starken Brettsperrholzquerschnitt.

Gelungen ist dies, indem zweischichtige Lagen mit einer dickeren „aktiven" Schicht mit hohem Feuchtigkeitsgehalt und einer dünneren „restriktiven" Schicht mit niedrigem Feuchtigkeitsgehalt kreuzweise angeordnet verleimt werden. Die zweilagigen Platten krümmen sich, wenn das Holz in der aktiven Schicht beim Trocknen schwindet. Mit Hilfe analytischer Berechnungsmethoden und digitaler Modellierungswerkzeuge können die natürlichen Eigenschaften des Materials gezielt und präzise genutzt werden, um mit geringem Energieaufwand gekrümmte Geometrien zu erzeugen.

40 m² und ein Gewicht von nur 40 kg/m²

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Das Projekt HygroShell bricht mit typischen statischen Typologien im Holzbau, um neue Wege für die Konstruktion von Leichtbauschalen zu erschließen und das geometrische und architektonische Potenzial einfach gekrümmter Strukturen auszuschöpfen. © ITECH/ICD/ITKE University of Stuttgart

HygroShell setzt also einmal mehr, wie schon Vorgängerprojekte, bei der Steigerung der Materialeffizienz an, geht aber noch einen Schritt in Richtung Reduktion des Energieaufwands zur Herstellung von Bauteilen. „Im Holzbau ist die Trocknung von Holz von seinem anfänglich hohen Feuchtigkeitsgehalt der bei weitem energieintensivste Schritt. Durch die Verwendung relativ dünner Holzlamellen und Lufttrocknung wird der Energieverbrauch in der Fertigung maßgeblich reduziert, während gleichzeitig die formgebende Funktion großer gekrümmter Bauteile gewonnen wird“, heißt es dazu. „Damit verlagert sich die Schwierigkeit, die normalerweise mit dem Bau gekrümmter Bauteile verbunden ist, von aufwändigen Schalungen und komplexen Bearbeitungen hin zu einer ausgeklügelten Programmierung des Materials selbst.“

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© ICD/ITKE/IntCDC University Stuttgart

HygroShell baut auf einer Reihe erfolgreicher Forschungspavillons auf, in denen durch die Integration von computerbasierten Modellierungs-, Simulations- und Fertigungsverfahren neue konstruktive Möglichkeiten und Raumgefüge erforscht werden. Mit einer Fläche von 40 m² und einem Gewicht von nur 40 kg/m² ist das Flächentragwerk ein Leichtgewicht. Es wird lediglich von drei schmalen Stützen getragen. „Die Entwicklung solcher Konzepte ist nur durch die enge Verzahnung von computerbasiertem Entwerfen, Simulation, Materialforschung und Industrieerfahrung möglich und verdeutlicht das Potenzial der interdisziplinären Forschung und Ausbildung in der Architektur“ heißt es abschließend vonseiten des Projektteams.

Das vorgestellte Projekt wurde von einem interdisziplinären Team des Masterstudiengangs ITECH und des Exzellenzclusters IntCDC entworfen, entwickelt und realisiert.

Projektteam

Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung - ICD
Prof. Dr.-Ing. Dylan Wood, Laura Kiesewetter, Prof. Achim Menges

Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen - ITKE
Dr.-Ing. Axel Körner, Kenryo Takahashi, Prof. Dr.-Ing. Jan Knippers

Konzeptentwicklung, Systementwicklung, Fertigung und Konstruktion
Andre Aymonod, Wai Man Chau, Min Deng, Fabian Eidner, Maxime Fouillat, Hussamaldeen Gomaa, Yara Karazi, Arindam Katoch, Oliver Moldow, Ioannis Moutevelis, Xi Peng, Yuxin Qiu, Alexander Reiner, Sarvenaz Sardari, Edgar Schefer, Selin Sevim, Ali Shokri, Sai Praneeth Singu, Xin Sun, Ivana Trifunovic, Alina Turean, Aaron Wagner, Chia-Yen Wu, Weiqi Xie, Shuangying Xu, Esra Yaman und Pengfei Zhang

Mit Unterstützung von: Katja Rinderspacher, Simon Bechert, Michael Schneider, Michael Preisack, Sven Hänzka, Sergej Klassen, Hendrik Köhler, Dennis Bartl, Sebastian Esser, Gregor Neubauer, Gabriel Kerekes und das Institut für Ingenieurgeodäsie (IIGS)

Exzellenzcluster Integratives Computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur, Universität Stuttgart (IntCDC)

Projektunterstützung:

Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Universität Stuttgart, School of Talents – Universität Stuttgart, Digitize Wood – Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Wuerttemberg (MLR), Zukunft Bau – Ministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, Kolb Sägewerk, Henkel AG, Scantronic, Brookhuis Technologies, CAB5

Quelle: ICD/ITKE/IntCDC Universität Stuttgart